Nach wie vor lese ich in meinem Umfeld, in den Medien und vor allem in den abgrundtiefen Kommentarspalten verschiedenster Online-Portale Sätze wie „Es ist genug“, „Wir können ja nicht allen helfen“, oder, schlimmer: „Die kommen nur um zu profitieren“ und so weiter. Diese Einstellung ist naiv und arrogant. Die Schuld den Schwächsten zu geben, ist leider nach wie vor die beliebteste und bequemste Methode. Nach den Ursachen für die Flüchtlingswelle zu suchen und sich selbst eine Mitverantwortung einzugestehen, fällt hingegen schon viel schwerer.
Meine Einstellung ist klar: Diesen Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen oder weil politisch oder aus anderen Gründen verfolgt, fliehen, muss geholfen werden. Nicht aus gutem Willen, sondern weil es unsere Pflicht ist. Nicht wegen biblischem Nächstenliebetrara, sondern, weil wir (der Westen) mitschuldig sind am herrschenden Elend in den Herkunftsländern dieser Menschen.
Dazu drei aktuelle Beispiele: In Senegal werden die Meere von EU-subventionierten Schiffen leergefischt. Europa verdient, Afrika verliert Arbeit. Die kasachische Staatscheftochter wohnt am Genfersee. Arme KasachInnen zahlen mit Steuern ihr Luxusleben bei uns. Sie zahlt Steuern in der Schweiz. Geld der Ärmsten fliesst direkt in unseren Steuertopf, womit Strassen, Schulhäuser, Sicherheit und Wohlstand finanziert wird. Glencore baut Minen und nimmt den Kongo aus. Zahlt Steuern in Zug. Auch hier: Die Schweiz profitiert direkt vom Elend. Dazu kommen Waffenexporte und Bank-Konti der Diktatoren und anderer kriegsführenden Parteien.
Um mein eigener Standpunkt zu veranschaulichen, hier einige klassische Äusserungen besorgter SchweizerInnen, die ebenbesagte Mitverantwortung zu widerlegen versuchen, und meine Antworten darauf:
Der pragmatische Rechner:
„Wir können trotzdem unmöglich Millionen aufnehmen. Wir müssen ein Zeichen setzen, damit nicht noch mehr kommen."
Das sehe ich anders. Meiner Meinung nach würde das gut funktionieren in der Schweiz. Einige befürchten, der Wohlstand würde zurückgehen. Diese Angst wurde schon vor der Arbeiterwelle aus Italien und während des Balkankriegs propagiert und nicht bewahrheitet. Und falls dem doch so sein sollte, haben wir immer noch genügend Polster, unseren hiesigen Luxus etwas runterzufahren. Dafür können wir dann aber mit gutem Gewissen schlafen. Es ist ja schon so, dass wir in einer enormen Leistungsgesellschaft leben und durch Leistung auch einiges erreichen können. Die Tatsache jedoch, dass wir in einem wohlstehenden Land geboren sind und uns seit Geburt fast alle Türen offenstehen, haben wir uns nicht selber erarbeitet. Diesen Wohlstand dann doch für sich alleine beanspruchen zu wollen und zu sagen, die Solidarität muss bei der (oft sehr willkürlichen) Grenze aufhören, aus Angst, selbst in einer unbequemeren Situation zu landen, wäre wohl allzu leicht. Wir müssen ein Zeichen setzten, damit die Kriege und Ausbeutung dieser Menschen "änet de Grenze" endet. Nicht gegen die daraus entstehenden Flüchtlinge. Abgesehen von den reinen Zahlen sollte man sich zudem zwischendurch besinnen, wie oft im Zusammenhang mit Flüchtlingen von „Last“ oder „Bürde“ gesprochen wird, als wären diese Menschen ein altes Buch, das niemand mehr tragen mag. In Wahrheit aber bringen diese Menschen vor allem auch einen enormen kulturellen Mehrwert und bereichern unsere Gesellschaft in jeglicher Hinsicht.
Der Unschuldige:
„Ich kann diese wir sind Schuld-Scheisse nicht mehr hören! Deren Politiker sind korrupt. Da können wir nichts dafür.“
Schuld eingestehen ist nicht einfach. Du gibst die Schuld nun den hohen Politikern seit den "Demokratien". Stell dir vor, statt in die Demokratien zu entlassen (übrigens mit vielerorts weiterhin vom Westen kontrollierten Regierungen), hätte man nie kolonialisiert. Dann würde es uns wohl einiges schlechter gehen. Und das rohstoffreiche Afrika zum Beispiel wäre wohl einiges besser dran. Aber wir haben eingegriffen und profitiert. Dazu muss man nun stehen und auch die Folgen mittragen. Momentan äussert sich dies in einer Flüchtlingswelle. Warum sind die Menschen teils ungebildet in diesen Regionen? Warum sind Politiker korrupt und illoyal zu ihrem Volk? Weil dort alle zu wenig haben. Weil wir alles abziehen. Mit deinem Statement sagst du, PolitikerInnen dort sind grundsätzlich korrupt. Wären Unsere das nicht auch, bei solchen Zuständen? Würden die nicht auch erst schauen, dass es ihrer Familie gut geht, statt dem Rest des Landes? Es ist der globalisierte Kapitalismus, der all dies auslöst. Und wir sitzen ganz am oberen Ende hier in der Schweiz. Zu sagen, wir sind nicht mitverantwortlich, ist extrem naiv und arrogant. Zum Glück gibt es immer mehr Menschen, die dies einsehen und sich gegen die Ausbeutung der Ärmsten einsetzen. Gegen Konzerne wie Nestlé, Glencore, Ruag usw. stellen. Momentan sind die globalen Ausbeutungen jedoch schon zu weit fortgeschritten, also kann beziehungsweise muss man nur noch Verantwortung übernehmen und helfen.
Der Verschwörungstheoretiker:
„Die USA ist Schuld an den Kriegen und Putin und die Freimaurer sowieso!“
Endlich haben wir mal einen mächtigen Schuldigen gefunden. Gegen diese bösen Parteien scheinst du dich aber auch nicht so sehr einzusetzen wie gegen Flüchtlinge. Dass der Krieg eine wichtige Einnahmequelle für die USA und andere Rüstungsgrossmächte, aber auch für unsere Wirtschaft ist, ist kein Geheimnis. Viele amerikanische Milliardäre haben das Geld auf Schweizer Konten. Bestimmt auch einige Waffenhändler und Politiker. Die Vernetzung ist da. Das Geld kommt zu uns und die Armen werden ärmer. Das ist eine Tatsache, gegen die wir uns stellen müssen. Nicht gegen Flüchtlinge. Wir sind Teil der profitierenden Maschinerie. Wir müssen aufpassen, dass diese Ausbeutung endet oder müssen die Konsequenzen tragen.
Der Kampfstratege:
„Die müssen sich halt wehren gegen ihr Regime und nicht davonrennen.“
Wehren mit Fäusten gegen ein Regime, das alles niederschlägt, einschüchtert und tötet was nicht pariert? Das wäre bestimmt sehr heroisch. Leider auch meist aussichtslos und endet nach vollendeter oder gescheiterter Revolution wohl in Chaos statt in rosiger Zukunft und abnehmenden Flüchtlingsströmen. Beispiele zum selber googeln und nachlesen: Revolutionen in China, Iran, Chile, Kuba, Ägypten, Kambodscha und so weiter.
Der Verängstigte:
"Bei dieser Willkommenspolitik kommen auch Terroristen mit den Flüchtlingen und die Unterkünfte bergen grosses Konflikt- und Gewaltpotential. Da müssen die Regierungen handeln."
Irgendjemand schreit "da kommen Terroristen". Und schon soll den Unschuldigen das Leben wieder schwerer gemacht werden. Terroristen, oder sagen wir radikale Islamisten, gibt es auch in der Schweiz und in Deutschland. Genauso gibt es auch Neonazis, die Häuser anzünden. Terroristische Gewalt im Westen hat nichts mit den Flüchtenden zu tun, beziehungsweise ist es nicht ihre Schuld, sondern die, der wenigen Vollidioten auf beiden radikalen Seiten (Terrorismus umfasst nicht nur radikale islamische Gewalt, aber das ist ein anderes Thema). Das ist pure Angstmacherei auf den Schultern der Ärmsten und du glaubst es auch noch. Abgesehen davon hast du noch nicht verstanden, dass Angst und Aufmerksamkeit genau das ist, was der IS will.
Inwiefern restriktive Grenzkontrollen und Registrierungen helfen sollen, gewaltbereite radikale Islamisten aus unserem Land zu halten, weiss ich nicht. Jedenfalls bezweifle ich, dass es professionelle Terroristen (die sich bestimmt einen europäischen Pass organisieren könnten) abhalten wird, hier einen Anschlag zu verüben.
In den Gemeinschaftsunterkünften braucht es Sicherheit. Denn ja, das Konfliktpotential ist gross, da extrem viele Menschen (mit völlig ungewissen Zukunftsaussichten) auf engstem Raum zusammengehalten werden. Würde bei verzweifelten Schweizern auf engem Raum genau so ablaufen.
Mehr Unterstützung der Regierungen würde ich auch sehr schätzen. Sind sie es doch, die die Welle nicht mit „Asyl-für-Alle“-Schreien, sondern mit der jahrelangen Ausbeutung dieser Länder mitausgelöst haben.
Der persönliche Angreifende:
„Dann hau doch ab aus der Schweiz, wenn es dir hier nicht passt!“
Dass es mir hier nicht passt, habe ich in keinem Wort gesagt. Im Gegenteil, mir geht es hier wunderbar; nur bilde ich mir nicht ein, dass mein Wohlstand hier einzig auf mein Verdienst gewachsen ist, sondern sehr fest mit der Lotterie zusammenhängt, wo jemand geboren ist. Und ganz nebenbei würden mich dank Facebook etc. solch ignorante Texte und Kommentare weiterhin erreichen, und es ist diese ignorante Einstellung gewisser SchweizerInnen, die mir hier momentan das Leben schwer macht.
Der Robinson Crusoe:
„Dann gründe doch deinen eigenen Staat, der alle Flüchtlinge aufnimmt.“
Gegenvorschlag: Gründe du mal einen Staat, der ohne Ausbeutung Ärmerer heutzutage zu einer florierenden Wirtschaft kommt. Ohne Bankkonten, die Gelder abziehen aus armen Regionen. Ohne Erdöl aus Krisengebieten. Alles ganz bürgerlich und fair aufgebaut. Günstige Arbeitskräfte, importierte Waren aus Kinderarbeit und so weiter wirst du wohl auch nicht wollen. Mal schauen, wie viele Winter dich deine Kartoffelernte durchbringen wird.
Wir haben das Blut an unseren Händen. Zu helfen und andere Menschen offen in unserem Land zu empfangen, ist nicht eine gute Tat, es ist unsere verdammte Pflicht zu teilen, was nicht (nur) uns gehört. Wir mit unserem Konsum und unserer Gier tragen Mitschuld daran, dass die dritte Welt immer mehr im Elend versinkt. Wir haben mit zugeschaut, wie seit der Kolonialisierung Europa dem Rest der Welt die Rohstoffe abzieht. Wir schauen auch heute noch zu, wenn Nestlé zum Beispiel Quellen aufkauft. Früher konnten Einheimische am Brunnen Wasser holen. Heute müssen sie es in Plastik-Flaschen kaufen. Geld fliesst wieder direkt zu uns aus den Taschen der Ärmsten.
Was kann man nun also tun, um den flüchtenden Menschen zu helfen und um Verantwortung zu übernehmen?
Setzt euch gegen falsche Posts und Online-Kommentare ein, die bei den Flüchtlingen die Schuldigen suchen. Löscht diese Menschen nicht von der Freundesliste, sondern argumentiert dagegen.
Helft mit persönlichem Einsatz mit. Die grossartige Organisation Tsüri hilft macht dies mit riesigem Effort. Meldet euch bei ihnen und fahrt mit runter zur ungarisch-österreichischen Grenze, wo Hilfe dringendst benötigt wird, oder unterstützt sie mit Sach- oder Geldspenden.
Spendet an Organisationen wie den Ärzte ohne Grenzen, dem Roten Kreuz oder der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Nehmt Flüchtlinge bei euch als Gastfamilie oder in der WG auf.
Informiert euch zum Beispiel via Amnesty International, welche Konzerne solche Ausbeutung mitmachen. Achtet auf die Produkte, die ihr kauft. Setzt euch ein gegen den globalisierten Kapitalismus auf dem Rücken der Schwächsten.
Hört nie auf, euch über die komplexen Zusammenhänge in der globalisierten Welt zu informieren. Beginnt bei philosophischen Büchern, die die Legitimität von Staaten, Grenzen, vom Souverän erst begründen (John Locke, Rousseau, Hobbes) und, einmal als notwendig akzeptiert, verschiedene Staatsformen rechtfertigen (zB John Rawls Egalitarismus in "A Theory of Justice", aber auch Nozicks Antwort in "Anarchy, State and Utopia" lohnt sich), oder die Grenzen, Nationen per se in Frage stellen (zB Carens "Aliens and Citizens: The Case for Open Borders", oder Martino Monas "Das Recht auf Immigration"). Empört euch, engagiert euch!
Aber vor allem solidarisiert euch mit den Menschen. Helft ihnen, sich zu integrieren, sich hier in der Schweiz wohl statt ausgegrenzt zu fühlen. Mobilisiert euch auf Demos und zeigt den ankommenden Menschen und den Flüchtenden, dass sie hier willkommen sind. Dass wir wollen, dass die Ausbeutung endet und solange Verantwortung übernehmen für das von unseren Staaten und Konzernen verursachte Chaos. Danke.
Christian Gamp
Diskussion zum Thema gerne auf Twitter oder Facebook.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Tsüri hilft.